Trugschlüsse im Dispensationalismus
Der Dispensationalismus als eine Methode der Bibelauslegung, der zufolge die Menschheitsgeschichte in verschiedene Zeitalter (Dispensationen) zu unterteilen ist, beharrt auf einem übermäßig literalen Leseverständnis der Bibel und dem Glauben, die Wiederkunft CHRISTI werde vor Beginn seiner 1000-jährigen Herrschaft erfolgen. Viele Dispensationalisten glauben, dass Jesus nach 6000 Jahren unserer Zeitrechnung wiederkehren wird, wobei die Annahme zugrunde liegt, dass jeder Schöpfungstag 1000 Jahren entspricht. So folgt auf sechs Tage (6000 Jahre) einer „Woche“ in der Menschheitsgeschichte ein siebter Tag (1000 Jahre) der Ruhe — die Herrschaft CHRISTI. Dabei bedient sich der klassische Dispensationalismus eines massiv wirkenden „Angstfaktors“, dem zufolge die „Entrückung“, bei der die wahren Gläubigen aus der Menge der weniger begnadeten Sterblichen ausgewählt werden, jeden Augenblick eintreten kann. Ich selbst bin in einer durch biblische Prophetie stark geprägten Kultur aufgewachsen. Ich habe in der ständigen Angst gelebt, der Tag des Jüngsten Gerichts stehe unmittelbar bevor. Die „endzeitliche“ Auslegung der Bibel, wie sie mir beigebracht wurde, hatte unglaubliche Macht über mich — sie beeinflusste meine Zukunftsvorstellungen ebenso wie meine geopolitischen Auffassungen.
Erst in meinen Vierzigern begann ich, diese prophetische Verständnisbasis zu hinterfragen. War sie denn nicht unmittelbar der Bibel - dem Wort GOTTES - entnommen? Warum sollte ich sie in Frage stellen? Nun aber entdeckte ich, dass mein eschatologisches „Wissen“ (über die letzten Dinge) unmittelbar auf eine Methode der Bibelauslegung zurückging, die gemeinhin als Dispensationalismus bezeichnet wird. Meine geistige Suche geriet zu einer dunklen Reise, aber letztlich musste ich eingestehen, dass das, was ich ohne Hinterfragen angenommen hatte, in fataler Weise falsch war. Ich entdeckte, dass diese Methode, die mein Leben in so enge Bahnen gelenkt und meine Wertvorstellungen und Überzeugungen geprägt hatte, in erster Linie aus dem Vereinigten Königreich stammte und insbesondere durch die Schriften und Lehren von John Nelson Darby (1800— 1882) bekannt geworden war. Die Lehren Darbys breiteten sich in den 1870er Jahren unter der Bezeichnung Dispensationalismus aus; gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich Prophethie-Konferenzen bereits zu einem Merkmal der protestantisch-fundamentalistischen Kirchen in Nordamerika entwickelt. Cyrus Ingerson (C.I.) Scofield (1843 — 1921) trat als führender Verfechter und Sprachrohr der dispensationalistischen Bewegung auf und veröffentlichte schließlich im Jahr 1909 seine „Scofield Reference Bible“. Diese „Scofield-Bibel“ würden wir heute als Studienausgabe bezeichnen - eine Bibel, in der neben dem Bibeltext Kommentare dispensationalistischer Prägung abgedruckt sind. An manchen Stellen ließen sich solche Anmerkungen nur schwer vom Haupttext unterscheiden, so dass viele Leute, die diese Bibel benutzten, auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts dispensationalistisches Gedankengut als Heilige Schrift verstanden. Zu den praktischen Auswirkungen des Dispensationalismus in der christlichen Weltsicht zählt die Vorstellung, JESUS könne und werde erst dann in unsere Welt zurückkehren, wenn zuvor bestimmte Ereignisse eingetreten seien. Dispensationalistisches Gedankengut ist nicht nur in fundamentalistisch- und evangelikal-christlichen Kirchenkreisen populär, die an die historische christliche Doktrin glauben, sondern findet auch viele Anhänger in — ihrem Selbstverständnis nach — christlichen Kultgemeinschaften. Zwar gibt es verschiedene Erscheinungsformen dispensationalistischer Überzeugungen, doch die Sichtweise als solche ist auf gemeinsame Nenner zurückzuführen. So verzichtet der Dispensationalismus auf solide, bewährte und erprobte Prinzipien des Bibelverständnisses (siehe beispielsweise How to Read the Bible for All Its Worth von Gordon Fee und Douglas Stuart, Zondervan Publishing). Zudem basiert er auf übermäßig literalen Auslegungen prophetischer Passagen, so dass zuweilen Entstellungen und Manipulationen erforderlich werden, um solche Passagen mit dispensationalistischen Schlussfolgerungen stimmig zu machen. Durch derartiges „Zurechtstutzen“ der Bibel wird dann ein prophetischer „Heils-“ oder „Zeitplan“ ausgewiesen. Die Romanfolge Left Behind (deutsche Übersetzung: „Finale. Die letzten Tage der Erde“) von Tim LaHaye, von den Koautoren als Fiktion bezeichnet, schildert dieses zusammengestückelte Endzeit-Szenarium. Nachstehend werden die Ereignisse „am Ende aller Zeiten“ aus dispensationalistischer Sicht pauschal zusammengefasst.
Der Dispensationalismus im 20. Jahrhundert — ein verwirrendes Blendwerk Und wie ist es um den Dispensationalismus im 20. Jahrhundert bestellt? Das ist eine tragische Geschichte mit gefälschten und fingierten Voraussagen, die allesamt auf denselben hoffnungslos zusammengebrochenen Grundlagen des Dispensationalismus beruhen. Keine dieser evangelikalen Voraussagen ist eingetreten — die wohl bekanntesten Fehlprognosen stammen von HaI Lindsey aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts („The Late Great Planet Earth“) und den zeitgenössischen Veröffentlichungen von Tim LaHaye mit seiner Erfolgsserie „Finale. Die letzten Tage der Erde.“ LaHaye scheint aus den Fehlern seiner dispensationalistischen Vorväter gelernt zu haben, aber auch er reitet auf der populär einträglichen Welle der Zukunftsdeutung im Namen JESU. Der Autor distanziert sich insofern, als er fiktive Horrorgeschichten über das Schicksal derer schreibt, die nicht zu den Entrückten zählen (auch dies eine dispensationalistisch-kreative Innovation). Doch viele Leute, die LaHayes Romane lesen, sind nicht in der Lage, zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zu unterscheiden — mit der Folge, dass die Fiktion von LaHaye häufig als Wahrheit des Evangeliums missverstanden wird. Eine einschlägige Organisation (The Ontario Consultants on Religious Tolerance, www.religioustolerance.org) listet 64 gescheiterte Endzeit-Prognosen auf, die alle bis 1990 hätten eintreten sollen. Bei dieser umfassenden Liste wird folgende Einschränkung mitgeliefert: „Wir übernehmen keine Garantie dafür, dass die nachstehend aufgeführten Propheten diese Voraussagen tatsächlich gemacht haben. Wir haben ihre mutmaßlichen Voraussagen so dargestellt, wie sie im Web, in Zeitungen, Büchern usw. beschrieben werden. Wir verfügen nicht über die erforderlichen Ressourcen, um das ursprüngliche Quellenmaterial zu benutzen.“ Nun sind viele der aufgelisteten Dokumente hinreichend bekannt und enthalten vielerorts veröffentlichte Voraussagen; obgleich redaktionelle und erläuternde Kommentare seitens der Autoren, die solche Persönlichkeiten |
und Bewegungen nachhaltig unterstützen, ebenfalls in Hülle und Fülle vorliegen, sind auch die ursprünglichen Quellendokumente für derart bestürzende Missdeutungen im Allgemeinen zugänglich.
Sicher ist nicht der Dispensationalismus als solcher für den ganzen Unfug verantwortlich zu machen, doch immerhin stellen die nachstehend genannten unerfüllten Voraussagen nur eine kleine Auswahl von Prophezeiungen dar, die der einen oder anderen Variante dispensationalistischen Bibelverständnisses zuzuschreiben sind:
Hier sei nur so viel gesagt, dass die obige Aufzählung lediglich eine kleine Auswahl dispensationalistisch ausgerichteter Fehlprognosen ist. So bleiben viele zeitgenössische Sensationsmacher ungenannt, die derzeit mit ihren dreisten Behauptungen Schlagzeilen machen — ganz zu schweigen von dem Geld, das sie Leuten aus der Tasche ziehen, die letztlich ihren Prognosen Glauben schenken. Jede Glaubensvorstellung ist mit praktischen Auswirkungen und Konsequenzen verbunden; der Dispensationalismus ist ein Beispiel erster Güte. So waren viele Menschen vor rund acht Jahren überzeugt, sie würden im Jahr 2000 ein weltweites, durch Probleme bei der Computer-Umstellung ausgelöstes Debakel erleben, das sehr wohl zur Ausrottung der Menschheit auf dem Planeten Erde führen könne. Y2K geriet zur „großen Enttäuschung“ unserer Generation (die ursprüngliche „große Enttäuschung“ beschrieb die Nachwirkungen, die William Millers fehlgeschlagene Prophezeiung von der Wiederkunft Jesu Christi hatte). Y2K wurde dogmatisch und überzeugend von vielen anerkannten Kirchen und elektronischen Kanzeln gepredigt und zehrte an Energie und Konzentration vieler gläubiger Christen. Anstelle einer High-Tech- Katastrophe war die Unterwanderung des Glaubens die Folge. Fanatisch vertretene Y2K-Lehren veranlassten viele Leute, ihr Eigentum zu veräußern, Brunnen anzulegen und gefriergetrocknete Lebensmittel zu horten, um die bevorstehende Katastrophe zu überleben. Vorstellungen zeitigen Konsequenzen. Dass Y2K nicht eintrat, löste eine manipulative Hype aus, die viele Menschen vom Glauben abfallen ließ (siehe Artikel „Y2K — High Tech Apocalypse“ in Plain Truth, Ausgabe vom Mai-Juni 1999). Ich selbst, der ich viele dieser in unerfüllten Voraussagen mündenden Grundsätze und Prinzipien vertreten und gepredigt habe, kam zu der demütigenden Schlussfolgerung, dass der Dispensationalismus mich — wie auch unzählige Millionen anderer Leute - auf einen theologischen Holzweg geführt hatte. Meine Nachforschungen und Studien veranlassten mich schließlich, ein Buch mit dem Titel Revelation Revolution zu veröffentlichen, aber mein Interesse an Jahrtausend-Verrücktheit, Jahrtausend-Voraussagesucht und Jahrtausend-Prophetiewahn ist geblieben, denn meiner Ansicht nach ist es unerlässlich, dass Christen darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Schaden der Dispensationalismus anrichten kann. Zu den wichtigsten dispensationalistischen Gefährdungen zählen:
Quelle: Albrecht, Greg in: „Nachfolge“ - Ausgabe 10 - 11 2006 |